Lockerbie-Attentat
Explosiver Widerruf
Von Johannes Leithäuser, London
259 Menschen starben bei dem Attentat - gegen Libyen wurde ermittelt |
Vier Seiten ist die persönliche Erklärung eines Schweizer Ingenieurs lang. Sie könnte 19 Jahre Ermittlungen und Prozesse zum Bombenanschlag auf den PanAm-Flug 103 über dem schottischen Lockerbie zunichtemachen. Libyen wäre dann nicht mehr für den schwersten ihm zugerechneten Terroranschlag verantwortlich.
Der Sprengsatz explodierte am 21. Dezember 1988 im vorderen Rumpf einer Boing 747 der amerikanischen Fluggesellschaft in 9000 Meter Höhe; alle 259 Menschen an Bord und elf Einwohner der Ortschaft Lockerbie starben – durch die Explosion, den Aufprall am Boden, Verpuffungen und Brände.
Beweisfälschung?
Die Einzelteile des Flugzeugs waren auf einer riesigen Fläche verteilt |
Mehr als zwölf Jahre später, am 31. Januar 2001, wurde der libysche Geheimdienstoffizier Megrahi von einem in den Niederlanden tagenden schottischen Gericht schuldig gesprochen und zu lebenslanger Haft verurteilt. Seine Berufung scheiterte zunächst. Ende Juni 2007 entschied jedoch eine schottische Revisionskommission, das erste Gericht habe ein „Fehlurteil“ gefällt, ein neues Berufungsverfahren sei zulässig.
Am 18. Juli gab der Schweizer Ingenieur Ulrich Lumpert eine Erklärung ab, in der er frühere Angaben in den Lockerbie-Ermittlungen widerruft und feststellt, einzelne Beweisstücke seien „vorsätzlich politisch“ manipuliert worden.
Er wolle nun mit seiner Erklärung „den Anschuldigungen Libyens, für die Lockerbie-Tragödie verantwortlich zu sein, ein Ende setzen“. Der Prozessbeobachter der Vereinten Nationen, der österreichische Philosoph Hans Köchler, verlangt unter Hinweis auf die Aussagen Lumperts, jetzt müsse die schottische Justiz von Amts wegen mögliche Beweisfälschungen untersuchen.
10.000 Einzelteile wurden untersucht
Die Explosion in großer Höhe hatte die Bestandteile des Flugzeuges und seines Inhaltes auf einer Fläche von rund 2000 Quadratkilometern zerstreut, mehr als 10.000 Einzelteile wurden gefunden und gesichtet. Der amerikanische Auslandsgeheimdienst CIA und der britische MI5 trugen zu den Ermittlungen bei.
Unter den terroristischen Gruppen, die sich des Anschlages bezichtigten, wurde in einer ersten vorläufigen Einschätzung amerikanischer Sicherheitskreise den „Wächtern der Islamischen Revolution“ die höchste Glaubwürdigkeit zuerkannt. Diese Gruppe hatte behauptet, der Anschlag sei die Vergeltung für den Abschuss eines iranischen Passagierflugzeugs durch die Amerikaner ein halbes Jahr zuvor.
Bombensprengstoff mit Kinderkleidung umwickelt
Später wurden auch Ähnlichkeiten der Lockerbie-Bombe mit der Bombenkonstruktion der „Volksfront zur Befreiung Palästinas – Generalkommando“ festgestellt, die in Deutschland beschlagnahmt worden war. Vor allem aber rückte Libyen ins Visier der Ermittler, das in den achtziger Jahren mehrfach mit Amerika in Konflikt geraten war.
Im Jahr 1986, zweieinhalb Jahre vor dem Lockerbie-Attentat, war Libyen für den Bombenanschlag auf die Berliner Diskothek „La Belle“ verantwortlich, die von vielen amerikanischen Soldaten besucht wurde. Amerikanische Flugzeuge bombardierten daraufhin Tripolis und Bengasi.
Die Ermittlungen in Lockerbie stützten sich Anfang der neunziger Jahre schließlich auf den maltesischen Ladenbesitzer Gauci, in dessen Geschäft der spätere Angeklagte Megrahi jene Kinderkleidung gekauft haben soll, mit der der Bombensprengstoff in einem Schalenkoffer umwickelt gewesen sei. Megrahi war zu jener Zeit auf Malta für die staatliche libysche Fluggesellschaft tätig.
Lybien lieferte die zwei Angeklagten aus
Ein zweites zentrales Beweisstück im Prozess gegen Megrahi stellten zwei Teilstücke einer Zeitzündvorrichtung dar, die nach Polizeiangaben unter den Trümmern gefunden wurden. Zündvorrichtungen dieses Typs waren von der Schweizer Firma Mebo an Libyen geliefert worden; zwei Prototypen gingen auch an eine wissenschaftliche Abteilung des DDR-Staatssicherheitsdienstes nach Ost-Berlin.
Libyen wurde daraufhin für den Lockerbie-Anschlag politisch in Haftung genommen und unter anderen von den UN mit Handelssanktionen bestraft. Erst ein Jahrzehnt nach dem Attentat, nachdem die libysche Führung einen Kurswechsel vollzogen hatte, setzte sie Ende der neunziger Jahre Kooperationszeichen.
Sie erkannte zwar nicht die Verantwortung für das Attentat an, aber für die Handlungen ihrer staatlichen Bediensteten. Libyen lieferte Megrahi und den zweiten Angeklagten Fhimah, der später freigesprochen wurde, an die schottische Justiz aus. Die Bedingung dafür war, dass der Prozess gegen die beiden auf neutralem Boden stattfinde.
Juristische Fehlgeburt
Der UN-Beobachter Köchler übte nach dem Verfahren in den Jahren 2001 und 2002 scharfe Kritik am Vorgehen der Justiz und nannte das Urteil eine juristische Fehlgeburt. Nach seiner Begutachtung gab es Mängel sowohl in der Verhandlungsführung als auch in der Beweiswürdigung.
Es sei vom Gericht nicht zur Kenntnis genommen worden, dass dem zentralen Zeugen Gauci, der den Angeklagten als Einkäufer der Kinderkleidung wiedererkannte, kurz vor seiner Aussage ein Zeitungsfoto Megrahis gezeigt worden war. Die schottische Revisionskommission, die jetzt – nach mehr als vier Jahre währenden Überprüfungen – ein neues Berufungsverfahren zuließ, folgte dabei unter anderem Köchlers Argumentationen, die Glaubwürdigkeit des Zeugen Gauci betreffend.
Beweisstück erst braun und dann verkohlt
Die brisantere Frage, ob die Fragmente des Bombenzünders manipuliert wurden, um ein Urteil gegen den libyschen Angeklagten sicherzustellen, ist von der Revisionskommission nicht detailliert untersucht worden. Schon vor der eidesstattlichen Versicherung des Schweizer Ingenieurs hatten sein früherer Arbeitgeber, der Chef der Herstellerfirma Mebo, Bollier, und ein bislang anonym gebliebener schottischer Polizeibeamter derartige Vermutungen geäußert.
Die Zeitschalter-Firma Mebo geriet durch die Anklage Libyens in den neunziger Jahren in dramatische wirtschaftliche Schwierigkeiten: Sie sah sich einer Schadensersatzklage von PanAm ausgesetzt und um ihren Leumund gebracht.
Bollier versuchte vergeblich, bei seiner Zeugenaussage im Prozess gegen Megrahi seine Auffassung vorzubringen, die als Beweisstücke eingeführten Schalterteile könnten nicht aus jenen Lieferungen stammen, die er einst nach Libyen geschickt hatte. Die dorthin gelieferten Schalttafeln seien grün gewesen, eines der ihm gezeigten Bruchstücke habe aber zunächst eine braune Farbe gehabt, bei einer späteren Vorlage sei es so verkohlt gewesen, dass man die Färbung nicht mehr habe erkennen können.
„Es konnte für mich lebensgefährlich werden“
Der einst bei Bollier angestellte Ingenieur Lumpert hatte hingegen bei seiner eigenen Aussage die Vorwürfe seines Chefs nicht unterstützt, sondern sinngemäß angegeben, die Firma habe solche Teile nach Libyen geliefert. Erst jetzt hat Lumpert diese Haltung in seiner Erklärung widerrufen und überdies sogar den Hinweis gegeben, jener Zündschalter, aus dem dann ein Beweisstück wurde, sei einer von drei von ihm selbst hergestellten Prototypen gewesen, die er „bei Mebo entwendet“ und in „unerlaubter Weise an eine offizielle Ermittlungsperson im ,Lockerbie-Fall‘ am 22. Juni 1989 übergeben“ habe.
Er habe zu jenem Zeitpunkt nicht gewusst, dass dieser Schalter als Beweismittel im Lockerbie-Fall eine zentrale Bedeutung erhalten werde. Als ihm das bei weiteren polizeilichen Vernehmungen 1991 klargeworden sei, habe er „unbeschreibliche“ Depressions- und Angstzustände bekommen.
Lumpert gibt an, als er gemerkt habe, „dass das Schaltbrett nach meiner unerlaubten Aushändigung für eine vorsätzliche politisch kriminelle Machenschaft missbraucht wurde, war für mich klar, dass ich ,mitten darin‘ steckte, und ich entschied mich, den Mund zu halten, denn es konnte ansonsten für mich, als ungewollten Geheimnisträger, lebensgefährlich werden“.
Beweismanipulation öffentlich eingestehen
Lumpert sagt zu den Gründen, warum er nun frühere Aussagen revidiere, der Zeitpunkt sei günstig, weil jetzt nach dem schottischen Revisionsspruch das Verfahren ohnehin wiederaufgenommen werde, überdies seien die Entwendung und die Weitergabe des Teils im Jahre 1989 und seine Falschaussage im Prozess 2001 strafrechtlich verjährt.
Lumperts früherer Arbeitgeber Bollier sagte, er habe erwogen, gegen Lumpert wegen dessen Aussage im Prozess Strafanzeige zu stellen, weil dadurch die Firma Mebo belastet worden sei, habe sich dann aber mit seinem früheren Angestellten darauf geeinigt, dass dieser seine Mitwirkung an einer Beweismanipulation öffentlich eingestehen solle.
Die schottische Justiz hat bislang die Wiederaufnahme des Lockerbie-Verfahrens nicht terminiert. Nach der Entscheidung der Revisionskommission hieß es, das könne frühestens im Jahr 2008 geschehen, also im zwanzigsten Jahr nach dem Attentat.
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